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Der Kunde als Designer

02.06.2023

Die Digitalisierung transformiert die Beziehung zwischen Hersteller und Kunde. Über Jahrhunderte waren die Rollen zwischen diesen Institutionen klar verteilt: die einen produzieren, die anderen konsumieren. Internet und neuartige flexible Produktionstechnologien verschieben jedoch die Grenzen und schaffen die Möglichkeit für neue Geschäftsmodelle, in denen der Kunde zum Produktgestalter werden kann.

Hat das Sinn? Dies war die Ausgangsfrage für ein Forschungsprojekt, das wir durchgeführt haben. In einer ausführlichen Recherche ermittelten wir die vier erfolgreichsten Uhrendesigns der Swatchklasse. Wir legten diese Uhren einer Gruppe von Versuchsteilnehmern vor und fragten sie nach ihrer Zahlungsbereitschaft. Der Durchschnittswert war 24 Euro und 25 Cents. Parallel gaben wir einer zweiten Gruppe die Möglichkeit, sich mit einem digitalen Konfigurator eine Uhr online selbst zu gestalten. Nach rund 10 Minuten waren sie fertig. Die funktionale, „objektive“ Qualität der Uhren war in beiden Gruppen identisch. Die Befragungssituation war gleich. Und auch die Zusammensetzung der beiden Gruppen stimmte vollkommen überein – es handelte sich um insgesamt 413 zufällig ausgewählte Wirtschaftsstudenten. Der einzige Unterschied waren die Uhrendesigns: Für die erste Gruppe waren es die erfolgreichsten professionellen Designs im gesamten Markt, für die zweite ihre eigenen Designs, also das flüchtige Werk von Amateuren. Wir waren gespannt: Wie hoch würde die Zahlungsbereitschaft der zweiten Gruppe sein?

Man könnte annehmen, dass die Teilnehmer ihre Zeit und Mühe „in Rechnung stellen“, also allein aufgrund des Aufwands schon weniger zu zahlen bereit sind. Aber auch wenn man sich nur auf das Produkt als solches konzentriert, scheint der Fall klar. Das Design der ersten Gruppe stammt von professionellen Designern. Sie haben Ausbildungen, Diplome und viel Erfahrung. Wenn sie eine Uhr gestalten, sollte sie deutlich besser aussehen, als wenn Laien ihre ersten Designschritte machen. Profis sind aber nicht nur talentierter als ein durchschnittlicher Student, sie investieren auch mehr Aufwand. Sie starten mit verschiedenen Ideen, diskutieren, verbessern und verwerfen sie, starten erneut und arbeiten schließlich iterativ die beste Idee genauer aus. Das kann Wochen dauern. Der Aufwand der Studenten wirkt dagegen geradezu lachhaft. Und schließlich handelt es sich bei den vier „Profi-Uhren“ nicht um irgendwelche Designs, sondern um diejenigen, die sich im Wettbewerb gegen tausende andere Designs als die besten durchgesetzt haben. Es wäre schon ein Wunder, wenn die Uhren der Amateure auch nur in die Nähe der 24,25 Euro für die Profiuhren kämen. Oder?

Tatsächlich lag die Zahlungsbereitschaft für die mit digitalen Werkzeugen selbst gestaltete Uhr aber nicht niedriger, sondern im Gegenteil mit 48 Euro 50 Cents exakt doppelt so hoch. Kann das sein? Es wirkt auf den ersten Blick wie die Behauptung, die Schulelf des Mädchengymnasiums Hintertupfing würde die Profifußballer von Real Madrid mit 10:0 vom Platz fegen. Also haben wir das Experiment mit zwei neuen Gruppen wiederholt. Diesmal setzten wir zur Messung der Zahlungsbereitschaft der 304 Teilnehmer aber keine Befragung ein, sondern ein anreizkompatibles Auktionsverfahrens. Wir baten sie jeweils um Gebote für die Uhren und informierten sie vorab, dass wir danach einen Zufallspreis ziehen würden. Wenn er über ihrem Gebot liegen würde, würden sie die Uhr nicht bekommen. Würde er höher sein, dann wären sie verpflichtet, sie zu genau diesem Preis zu kaufen. Denkt man kurz nach, dann wird man feststellen, dass es die beste Strategie in dieser Situation ist, das Gebot so zu setzen, dass es der eigenen maximalen Zahlungsbereitschaft entspricht. Die Teilnehmer verstanden das Prinzip genau, was sich an den im Vergleich zum ersten Experiment niedrigeren Werten zeigt. Es ist eben ein Unterschied, ob man eine unverbindliche Frage beantwortet oder tatsächlich den Geldbeutel öffnen und zu seinem Wort stehen muss! Was jedoch blieb, das war der Unterschied. Für die Profiuhren wurde durchschnittlich 7 Euro 82 Cents geboten, für die selbst gestaltete Uhr 15 Euro 50 Cents – erneut rund 100% Unterschied. Wir wiederholten das Experiment auch mit anderen Produkten, von Ski über Müslis bis Einbauküchen. Ohne jede Ausnahme lag der Wert des eigenen Designs signifikant über dem der Profidesigns.

In einer Serie von weitere Experimenten erforschten wir die Gründe dafür, dass einem das eigene Design einen so großen Zusatzwert schafft. Der erste Faktor ist die Möglichkeit der genauen Anpassung an die eigenen Bedürfnisse und den eigenen Geschmack. Ein Standardprodukt bedeutet zwangsläufig einen Kompromiss. Wer selbst gestaltet, der bestimmt dagegen auch selbst. Der zweite Faktor ist die Einzigartigkeit des Produkts. Sich von Anderen zu unterscheiden, ist ein Grundbedürfnis geworden in einer Zeit der unbegrenzten digitalen Reproduzierbarkeit. Auch der dritte Faktor erklärt sich aus den Lebensbedingungen der postindustriellen Gesellschaft, die keine Handarbeit mehr kennt, und in der die Marx’sche „Entäußerung“ längst eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Es ist der Wunsch selbst etwas zu schaffen, Urheber zu sein, Schöpfer. Es ist beinahe ironisch, dass es ausgerechnet die Digitalisierung ist, die uns hilft, dieses urmenschliche Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit zu stillen.

Für die Beziehung zwischen Hersteller und Kunde bedeutet dies, dass eine tektonische Verschiebung begonnen hat. Die Zeiten, in denen es eine klare Trennung zwischen Herstellern und ihren Kunden gab, sind vorbei. Die Entwicklung der digitalen Werkzeuge wird fortschreiten. Designen, Gestalten und Innovieren wird einfacher und intuitiver werden, die Designer der Zukunft werden die Kunden sein. Produkte werden im Vergleich zu heute viel individueller, unterschiedlicher und auf die Bedürfnisse des Kunden in viel stärkerer Weise zugeschnitten sein. Schon in wenigen Jahren werden wir uns über die heutige Zeit und die relative Einheitlichkeit vieler Produkte so wundern, wie wir heute über Napoleon und seine Einheitsschuhe staunen. Aus Kostengründen hatte der seine Armeen mit Schuhen einheitlicher Größe ausgestattet. Egal welche Schuhgröße der Soldat hatte, jeder bekam den gleichen Schuh. Sogar linke und rechte Schuhe waren absolut gleich. Erstaunlich? Ja, das werden unsere Enkel über unsere Zeit auch sagen.

Nikolaus Franke, Wirtschaftsuniversität Wien

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